Das Atelier als leerer Raum
Wer einen Raum für kreative Produktion anmietet oder besitzt und ihn zum Atelier erklärt, proklamiert sich zum Künstler (im ganzen Text nicht als Mann oder Frau gemeint, sondern als Erscheinung, Figur, Idee, Prototyp). Noch bevor es zum Kunstmachen kommt, erlangt diese Kundmachung den Wert eines Lebenszeichens der ganz besonderen Art: feierliche Mitteilung an seine Umwelt, Grundsatzerklärung, Programm und Vorhersage auf ein erwartbar besseres Leben. Von nun an wird die Lebenszeit nicht mehr in Tagen und Jahren bemessen, bedeutsam sind nur noch die Stunden, in denen einem sprichwörtlich die Muse küsst. Eingebungen und Aha-Momente können sich immer und überall ereignen, in unerwarteten Situationen und an ungewöhnlichen Orten, im Bad oder Bett, beim Joggen oder Autowaschen. Wichtig ist eine gleichsam schwebende innere Aufmerksamkeit, welche die Manifestation derartiger Eingebungen begünstigt. Sprachbilder dafür finden sich einige: eine Quelle beginnt zu sprudeln, ein Licht geht auf, eine Türe öffnet sich, eine Idee wird geboren – die Metaphorik zum Kreativakt ist zugleich magisch, visionär und vielfältig.
Die Rede vom göttlichen Funken, vom genialen Geistesblitz und vom großen Wurf hat zum Ursprung meist den fixen Ort eines Ateliers. Die Sternstunden eines Künstlers und die Schlüsselmomente der eigenen Lebenskunst ereignen sich an diesem Ort der Quälerei und des größten Glücks, der so individuell ist, wie der Künstler selbst. Das Spektrum der Gestaltung reicht von penibler Ordnung bis hin zu überbordendem Chaos. Der Blick ins Atelier offenbart, wie Kunstschaffen sich generiert und wie es mit der Persönlichkeit, mit Stimmung und Art der Kunstarbeit korrespondiert. Im Atelier äußert sich das menschliche Grundbedürfnis nach Privatheit, nach Rückzug zu Konzentration, Kommunikation und Kontemplation. Hier entstehen die Legendenbildungen um heroische Individualität, um Musen- und Kultraum, um Weihestätte und Heiligkeit der Kunst mit all ihren Mystifikationen. (...).
Dem Ort der schöpferischen Eingebungen im Stirnlappen des menschlichen Gehirns lässt sich das Atelier als Urzelle kreativer Produktion im realen Leben zuordnen, in dem „heilige“ und „erleuchtete“ Momente aufblitzen. Am meisten profitiert, wer auf einen großen Wissensvorrat oder auch auf handwerkliches Können zurückgreifen kann. Begünstigt wird der „Geniestreich“ durch eine angenehme Atmosphäre bei der Ideenfindung. Kreative Einfälle belohnt das Gehirn, indem seine Zellen glückspendende Endorphine ausschütten. Ein Künstler benötigt also ein Problem ohne Lösung, das ihm zu schaffen macht. Er muss zudem erwarten können, dass es eine Lösung gibt und er braucht den lenkenden Widerstand der Wirklichkeit gegen die Beliebigkeit der Einfälle. Je überraschender die Lösung ist, desto besser fühlt er sich. Im Atelier findet die Dreiecksbeziehung Atmosphäre, Kreativität und Atelierwissen zu einer Einheit. Dazu gehört auch, dass der Künstler ganz bei sich bleibt, sich zugleich aber als in eine umfassendere Lebenswirklichkeit eingebettet erlebt, Mensch und Atelier wie von einer unsichtbar schützenden Aura umhüllt sind. (....).
aus: Paolo Bianchi, Das Atelier als Manifest, in: Kunstforum Band 208, 2011, S. 34 - 45